Gegenwärtig

2012 | Liebesbrief zur Versöhnung

Gegenwärtig suchen mich Träume heim, und ich fühle eine Schwäche wie noch nie vorher. Ich weiß, dass bei Menschen und Tieren während des Schlafes mehr oder weniger zufällig die Vorstellungen wieder auftauchen, die am Tage die Seele am meisten beschäftigt haben; aber das genügt nur meiner Vernunft, während das Gefühl sich nicht besiegen lässt. Es scheint mir unmöglich, dass zwischen uns nicht eine Art unsichtbare Beziehung bestehen sollte, die uns gegenseitig verrät, was einen von den Empfindungen des anderen interessiert. Seit ich deine Briefe bekommen habe, sind meine Träume froher geworden, und oft sind sie so köstlich, aber vorher hatte ich welche, einen vor allem, der mich aus dem Bett trieb, so sehr fürchtete ich, ihn zu wiederholen. Jetzt bringt mir jede Nacht einige der vergangenen Ereignisse in unserer Leibe zurück, oft ist die Einbildung so stark, dass ich dich höre, dich sehe, dich berühre: Vor drei Tagen war ich bei der Barbaud, an jenem Tag, als du einwilligtest, mich glücklich zu machen. Alles verdeutlichte sich, oder vielmehr wiederholte sich bis in die kleinsten Einzelheiten hinein. O Götter, ich schauere noch vor Liebe und Wollust, wenn ich daran denke. Dein Kopf auf meine Arme gestützt … dein schöner Hals, dein marmorweißer Busen, meinen brennenden Küssen freigegeben; meine Hand, meine glückliche Hand wagt sich zu verirren, ich hebe die gefürchteten Schutzwände, von denen du mich stets so sorgsam fern gehalten hattest, fort … deine schönen Augen schließen sich … du erhebst, du zitterst … Sophie, darf ich? O meine Freundin, willst du mich glücklich machen? Du antwortest nicht … du birgst dein Gesicht an meiner Brust … die Lust berauscht dich, aber die Scham quält dich … mein Verlangen verzehrt mich, ich werde ohnmächtig … ich komme wieder zu mir … ich nehme dich in meine Arme … vergebliches Mühen … der Boden sinkt unter meinen Füßen … ich verschlinge deine Reize und kann sie nicht genießen … Die Liebe erschwerte den Sieg, um seinen Lohn zu erhöhn. Aber die Hindernisse waren nutzlos … verwünschte Nachbarschaft raubte mir alle Kräfte … Welche Augenblicke, welche Verzückung, welcher Zwang, wie viel unterdrückter Taumel, wie viel halb gepflückte Genüsse! Und das alles, meine Freundin, empfand ich nun abermals, ich presste dich gegen das Bett, das dann der Zeuge meines Siegs und meines Glücks geworden ist … ich presste dich wider jene Sessel, wo alles mir unüberwindlichen Widerstand leistete, denn welche Art von Schönheiten vereinigtest du nicht? … Zuletzt erwachte ich voll Erregung und Verwirrung und bemerkte, bis wohin mich der Taumel hatte führen können …

Bist auch du manchmal glücklich, liebes Herz? Scheinen auch dir die Träume meine Liebe in Wirklichkeit zu bringen? Fühlst du meine Liebkosungen, überschüttest du mich mit deinen eigenen? Erweckt das Feuer deiner Küsse ein wenig den Unzertrennlichen zum Leben? Mein Kleines, du sagst mir, dass du träumst, und du sagst mir nicht, was du träumst. Bist du mir nicht Rechenschaft über deine Nächte wie über deine Tage schuldig? O sicher, sicher. Sie gehören viel mehr mir, ganz mir. Erzähl mir doch von dem, was du dir vorstellst, süße Gattin! Täusche den Raum, der uns trennt, umarme deinen Freund, lass ihn sehen, dass er deine Phantasie nicht minder wie dein Herz besitzt. Deine Seele ist so glühend, wären da deine Sinne kalt wie Eis?

Nein, nein, gewiss nicht, die Natur gab dir alle Leidenschaft, deine Erregung ist köstlich und fein wie dein fühlendes Herz. Es gefällt mir wenigstens, es zu glauben, und das ist meine einzige Selbstgefälligkeit: sie kommt nur von dir und alles Übrige ist in dir. Leb wohl, liebe, unvergleichliche Geliebte. Leb wohl, Gattin meines Herzens, Vielgeliebte deines Gabriel. Leb wohl, du bist sein Alles, seine Göttin, sein Leben, sein Weltenall. Nimm alle Küsse wieder, die du mir geben möchtest. Ich streue sie über deinen schönen Leib, und sieh, der kleinste Fleck hat seinen – doch wie viele fliehen in den Schatten des süßen Wäldchens, das über der Liebe im Tempel steht! …

Graf Mirabeau an Sophie von Ruffei aus dem Kerker von Vincennes | August 1777