Ich lehne mich an

2012 | Liebesbrief klassisch / kreativ

Ich lehne mich an deine redliche Brust, und mein Herz kann nichts als weinen. Heute deinen dritten Brief, Engel meines Lebens! Ich zerfließe fast in Tränen. Ach, was bin ich, armes Mädchen, dass du mich so lieb hast! Was wird aus mir werden, wenn ich einmal bei dir sein werde, auf deinem Schoß, an deiner Engelsbrust, dich selbst hören, lieben, über alles in der Welt lieben werde! Wie kann ich, wie werd´ ich das fassen! Du, du mein Herder, wirst mir Leben und Seligkeit und Himmel und neue große Seele geben – aber ich dir nichts als gute, treue, ganze Liebe. Wie bange wird mir oft über mein Nichts! Du machst dir ein ganz anders Bild aus mir, als du finden wirst, und wie wird´s dann sein? Ich denke immer furchtsam und freudig schauernd an unser Wiedersehen. Ewiges Band von treuester Liebe – edlem Leben und Würdigkeit! O Gott, bin ich das wert? Wert eines solchen himmlischen Lebens? Es geht über all mein Denken und Hoffen! Ich kann nichts davon reden; es ist nichts, und deine Briefe, edelster Jüngling, sind alles was Himmel und Elysium heißt. Hier sind meine leeren, schwachen, verlangenden Arme, die ich tausend Mal des Tags nach dir ausstrecke und um deinen Hals werfe und die jeden Baum, der mir Schatten und Freude gibt, für dich, mein Einziger auf der Welt umfassen. Oh, wie wird mir´s sein, dich wiederzusehen, dich selbst zu umfassen! Dein ganzes edles, erhabenes Herz in meinen Armen! Wie wollen, werden und können wir einst zusammenleben, wenn du mich erst durch deine Gegenwart und Aufmunterung neu geschaffen hast! Gott wird dein edles Herz belohnen! Ich kann nichts als niederknien und für dich beten. Aber meine Kräfte will ich anwenden, dich zu lieben; nicht Süßeres ist für mich auf der Welt. Oh, ihr goldenen Träume, wann werdet ihr erfüllt? Wann können Sie sich einmal aus Ihrer traurigen Öde und Lage (mein Herz bricht mir, wenn ich an Ihren einsamen Zustand in Bückeburg denke) losreißen, um uns nur wenigstens einige Tagen zu sehen, zu sprechen! Wie viel hätten wir uns zu sagen und – sehen musst du mich noch zuerst und dein Herz prüfen, ob ich dir denn auch noch gefallen kann, wenn ich sichtbar um dich bin. Ach Gott, das erwarte ich wie ein Todesurteil. Können sie künftiges Frühjahr herkommen, uns nur zu sprechen, liebster, einziger Freund? Von unserer künftigen, glückseligen Hütte, von unserer Liebe, von unserem ewig treuen Bande, was hätten wir da zu sprechen und holten neuen Mut und Hoffnung in unsere Arme und Herz! Wenn du es möglich machen kannst, so komme, holder, süßer, einziger Freund, nach dem trüben Winter zu mir. Ach, wie lang wird mir der Winter werden! Zumal dich so einsam zu denken! Oh, wär´ es doch vorbei und wir könnten zusammen in einem neuen Leben wandeln! Doch wirst du auch künftiges Frühjahr kommen können?

Was soll ich sagen? Du wartest auf einen Wink, auf den Aufschluss meiner Seele? Was soll ich sagen, Engel meines Lebens? Weißt du denn nicht, dass du handeln kannst, wie du willst, Lieber, dass ich nur ganz nach deinem Willen, nach deiner Einrichtung lebe – dass ich in einer armen, niedrigen Hütte schwarzes Brot mit dir essen und gesundes Wasser mit dir trinken will und ebenso glücklich und vielleicht glücklicher sein werde als im Glanz der Welt? Ach, warum sind wir nicht näher beisammen, damit mein Herder nicht fragen müsste: ob mein Herz ihn verstände? Guter Gott, lass mich doch nie so sinken, dass ich die Großmut und edle Seele meines Herder verkenne! Rede, rede, Engel Gottes, was dein Herz verlangt, wünscht, hofft, will – du weißt dass ich mit Ruhe und Zufriedenheit deinen Ausspruch höre, wenn es uns auch noch jahrelang (aber das verhüte Gott) entfernte. Oh, hätte ich deinen Lebensplan einzurichten und das Vermögen dazu, die Wolke, die dich umgibt, sollte heute zerfließen, und ich würde heute zu dir fliegen und deine Trösterin, Pflegerin und – gutes Weibchen werden. Aber leider, mir ist alles Gute zu tun in der Welt versagt. Hoffen wir und werden nicht müde, uns zu lieben; wie groß und köstlich wird einmal unser Leben sein! Mein Lohn unendlich groß! –

Karoline Flachsland an Johann Gottfried Herder | Darmstadt, 26. September 1772