Meine Teuerste

2013 | Liebesbrief klassisch / kreativ

Kein Wort über die Begier, mit der ich Ihren Brief wie ein Dieb und ungeschickt genug zu mir steckte, mit ihm nach Hause eilte, mich auf mein Zimmer einschloß und ihn nicht, wie ich sonst wohl pflege, mir Heißhunger verschlang, sondern mit langsamen Genusse, Zug für Zug hinunterschlürfte! Ich eile vor allen Dingen auf Ihre Fragen zu antworten. – Ob vielleicht meine Freundschaft für Sie aus Mangel an anderm weiblichen Umgang entstanden? – Hierauf glaube ich entscheidend antworten zu können: Ich habe mancherlei Frauenzimmer gekannt und bin mit ihnen auf mancherlei Fuß gestanden; ich habe mancherlei empfunden, wo nicht die verschiedenen Grade, doch höchst wahrscheinlich die verschiedenen Arten der Empfindungen gegen ihr Geschlecht glaube ich durchlaufen zu haben; aber noch nie habe ich gegen eine empfunden, was ich gegen Sie empfinde. So ein inniges Zutrauen, ohne Verdacht, daß Sie sich gegen mich verstellen könnten, und ohne Wunsch, mich gegen Sie zu verbergen; so eine Begierde, von Ihnen ganz so gekannt zu sein, wie ich bin; so eine Anhänglichkeit in die das Geschlecht auch nie den entferntesten männlichen Einfluß hatte – denn weiter ist es keinem Sterblichen vergönnt, sein Herz zu kennen; – so eine wahre Hochachtung für Ihren Geist und Resignation in Ihre Entschließungen habe ich noch nie empfunden. – Urteilen Sie also selbst, ob es vom Mangel anderen weiblichen Umgangs herkam, daß der Ihrige einen Eindruck machte, den noch keiner gemacht hat, und mich eine ganz neue Art von Empfindung kennen lehrte. – Ob ich Sie in der Entfernung von Ihnen vergessen werde? – Vergißt man eine ganz neue Art von Sein und die Veranlassung dazu? Oder werde ich auch einst vergessen, aufrichtig zu sein? Oder wenn ich das vergessen könnte, verdiente ich dann noch, daß Sie sich bekümmerten, wie ich von Ihnen dächte?…

den 6. Dezember 1790
— Ich denke, wenn bei Dir die Umstände so bleiben, zu Anfang des April künftigen Jahres die Reise zu Dir, dem Inbegriffe alles Glücks, auf welches ich auf der Erde noch Anspruch mache, anzutreten; denn keine Veränderung in meinen Umständen soll mich daran verhindern. Schon jetzt ist es mir Erholung von aller Arbeit, mich an deine Seite hinzuträumen; ich genieße dann die frohesten Stunden, die ich in meiner gegenwärtigen Lage genießen kann, und auch jetzt will ich mich mit Dir über diesen meinen Lieblingstraum, dessen freudige Erfüllung mir so nahe bevorsteht, unterhalten. … Und so, theuerste Erwählte, gebe ich mich denn feierlich Dir hin und weihe mich hiermit ein, Dein zu sein. Dank Dir, daß Du mich nicht für unwerth hieltest, Dein Gefährte die Reise Deines Lebens hindurch zu werden. Ich habe viel übernommen, Dir einst Eratz – Gott gebe spät – für den edelsten Vater, Dir Belohnung Deiner frühen Weisheit, Deiner kindlichen Liebe, Deiner behaupteten Unschuld, aller Deiner Tugenden zu werden; ich fühle bei dem Gedanken der großen Pflichten, die ich hiermit übernehme, wenn ich klein bin. Aber das Gefühl der Größe dieser Pflichten soll mich erheben; Deine Liebe, Dine nur zu vorteilhafte Meinung von mir wird meiner Unvollkommenheit vielleicht das leihen, was mir fehlt. Hienieden ist nicht das Land der Glückseligkeit; ich weiß es jetzt; es ist nur das Land der Mühe, und jede Freude, die uns wird, ist nur Stärkung auf eine folgende heißere Arbeit. Hand in Hand wollen wir dieses Land durchwandern, uns zurufen, uns stärken, uns unsere Kraft mittheilen, bis unsere Geister – o möchten sie es vereint! – emporschweben zu den ewigen Hütten des Friedens. –

Fichte an Johanna Maria Rahn | Zürich, im Frühjahr 1790