Wieder ein Tag überstanden

Wieder ein Tag überstanden, um den ich euch näher bin. Wie langsam schleicht jetzt die Zeit, und wie unerbittlich schnell wird sie mir bei euch vorübereilen! Wäre indessen die Periode nur da, wo wir uns bloß über die Flüchtigkeit des Lebens zu beklagen hätten!

O meine teure Karoline! meine teure Lotte! Wie so anders ist jetzt alles um mich her, seitdem mir auf jedem Schritt meines Lebens nur euer Bild begegnet. Wie eine Glorie schwebt euere Liebe um mich, wie ein schöner Duft hat sie mir die ganze Natur überkleidet. Ich komme von einem Spaziergang zurück. In dem großen, freien Raume der Natur, wie in meinem einsamen Zimmer – es ist immer derselbe Äther, in dem ich mich bewege, und die schönste Landschaft ist nur ein schönerer Spiegel der immer bleibenden Gestalt.

Nie hab‘ ich es noch so sehr empfunden, wie frei unsre Seele mit der ganzen Schöpfung schaltet, – wie wenig sie doch für sich selbst zu geben imstande ist und alles, alles von der Seele empfängt. Nur durch das, was wir ihr leihen, reizt und entzückt uns die Natur. Die Anmut, in die sie sich kleidet, ist nur der Widerschein der inneren Anmut in der Seele ihres Beschauers, und großmütig küssen wir den Spiegel, der uns mit unserem eigenen Bilde überrascht. Wer würde auch sonst das ewige Einerlei ihrer Erscheinungen ertragen, die ewige Nachahmung ihrer selbst? Nur durch den Menschen wird sie mannigfaltig, nur darum, weil wir uns verneuen, wird sie neu. Wie oft ging mir die Sonne unter, und wie oft hat meine Phantasie ihr Sprache und Seele geliehn, aber nie, nie als jetzt hab‘ ich in ihr meine Liebe gelesen.

Bewundernswert ist mir doch immer die erhabene Einfachheit und dann wieder die reiche Fülle der Natur. Ein einziger und immer derselbe Feuerball hängt über uns – und er wird millionenfach verschieden gesehen von Millionen Geschöpfen, und von demselben Geschöpf wieder tausendfach anders. Er darf ruhen, weil der menschliche Geist sich statt seiner bewegt – und so liegt alles in toter Ruhe um uns herum, und nicht lebt als unsre Seele.

Und wie wohltätig ist uns doch wieder diese Identität, dieses gleichförmige Beharren der Natur. Wenn uns Leidenschaft, innrer und äußrer Tumult lang genug hin und her geworfen, wenn wir uns selbst verloren haben, so finden wir sie immer als die nämliche wieder, und uns in ihr. Auf unserer Flucht durch das Leben legen wir jede genosse Lust, jede Gestalt unseres wandelbaren Wesens in ihre treue Hand nieder, und wohlbehalten gibt sie uns die anvertrauten Güter zurück, wenn wir kommen und sie wiederfordern. Wie unglücklich wären wir, wir, die es so nötig haben, auch die Freuden der Vergangenheit haushälterisch zu unserm Eigentum zu schlagen, wenn wir diese fliehenden Schätze nicht bei dieser unveränderlichen Freundin in Sicherheit bringen könnten. Unsre ganze Persönlichkeit haben wir ihr zu danken; denn würde sie morgen ungeschaffen vor uns stehn, so würden wir umsonst unser gestriges Selbst wiedersuchen.

Aber ich lasse mich von meinen Träumereien nicht fortreißen, da ich euch doch weit beßre Dinge sagen könnte. Die Erinnerung an euch führt mich auf alles, weil alles wieder mich an euch erinnert. Ach, hab‘ ich nie so frei und kühn die Gedankenwelt durchschwärmen können als jetzt, da meine Seele ein Eigentum hat und nicht mehr Gefahr laufen kann, sich aus sich selbst zu verlieren. Ich weiß, wo ich mich immer wiederfinde. Meine Seele ist jetzt gar oft mit den Szenen der Zukunft beschäftigt; unser Leben hat angefangen, ich schreibe vielleicht auch, wie jetzt; aber ich weiß euch in meinem Zimmer. Du Karoline, bist am Klavier, und Lottchen arbeitet neben Dir, und aus dem Spiegel, der mir gegenüber hängt, seh‘ ich euch beide. Ich lege die Feder weg um mich an eurem schlagenden Herzen lebendig zu überzeugen, daß ich euch habe, daß nichts, nichts euch mir entreißen kann. Ich erwache mit dem Bewußtsein, daß ich euch finde, und mit dem Bewußtsein, daß ich euch morgen wiederfinde, schlummre ich ein.

Der Genuß wird nur durch die Hoffnung unterbrochen, und die süße Hoffnung nur durch die Erfüllung, und getragen von diesem himmlischen Paar verfliegt unser goldenes Leben!

Schiller an Lotte und Karoline

 

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